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Woher die fulminante Scheidungsrate?

Blog 135


Wir haben aber eher den Eindruck, der Roman ,Schoßgebete' lebe nicht sowohl von der Lüge, dass die Sexualität irgendetwas retten könne, als sei er vielmehr um eine Antwort auf die Frage bemüht: Wie ist in der Zeit des Onlinesex die zwischenmenschliche Sexualität noch zu retten?

So ist es erst ein Schriftsteller neuester Zeit – genauer, eine Schriftstellerin –, die das heiße Eisen gerade so anpackt, wie es de facto eigentlich angepackt werden muss. Mit ebenso radikaler Ehrlichkeit wie Unerschrockenheit stellt Charlotte Roche sich dem Problem: dass der zur Selbstbefriedigung etablierte ,Porno' und Internetsex in umfassendem Maß das Sexualleben der zeitgenössischen Männerwelt bestimmt. Und womöglich nicht nur der Männerwelt – findet sich im Netz doch eine genügende Anzahl von Frauen, die gleichfalls, ob inszeniert oder authentisch, auf dem Internetbildschirm masturbieren. Da aber, was die sexuelle Befriedigung betrifft, das ,schwache Geschlecht' aufgrund des fehlenden vaginalen Orgasmus naturgemäß seit je in ungleich größerem Maß auf die (klitorale) Masturbation angewiesen war – während der Mann immer auch auch koital zu seinem Ziel kommt –, scheint auch die digitale Kopulation für sie nur halb so interessant.

So stellt Frau Roche sich ungescheut der resultierenden, geradezu anthropologisch fundamentalen Frage: Wie kann der Sex for one des Internets mit dem realen zwischengeschlechtlichen Sex noch irgend versöhnt und auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden? Wo die moralischen Hinterwäldler das Problem noch gar nicht erkannt haben – oder sich hinter scheinheiliger Naivität verstecken –, scheint sie die Einzige, die auch noch diese letzte konsequente Aufklärung verlangt!

,Blitzgescheit' laut Spiegel analysiert sie die Lage und fragt: Ist der intersexuelle Liebesakt mit dem ipsistischen Sex des ,Porno' überhaupt je in Konkordanz und Harmonie zu bringen? Und falls ja, dann wie?

Und ja, sie hält es für möglich, aber nur dann wenn – beide Partner mit ihrem Sex ungehemmt am digitalen teilhaben können!

Der sexuelle Rausch vor dem Bildschirm soll für beider Liebesspiel zugleich gelten: „Wir gucken Pornofilme, um uns in eine Art Rauschzustand zu versetzen... Wir haben dann wilderen Sex währenddessen oder danach als sonst. Dafür gucken wir die.“

Notwendige Voraussetzung dafür sei, dass beide Partner sich aller gegenseitigen Scham entäußern: „Wir vergessen alles um uns herum, als hätten wir Sexdrogen genommen. Es hat was sehr Entspannendes, wenn man daliegt und anderen beim Sex zuguckt, wenn man es schafft, wie ich an diesem Abend, das kranke Eifersuchtszentrum auszuschalten. Sie kehren gleichsam ihr libidinöses Innerstes nach außen, schaukeln sich vor dem Bildschirm jeder für sich masturbierend zu optimaler Erregung auf und verschmelzen koital erst nahe dem Orgasmus. Dabei ist der Sex selber die Droge, indem die körpereigen ausgeschütteten Endorphine und Opiate den toxischen hormonellen Zustand bewirken; doch katalysiert der Onlinesex die endogene Ausschüttung auf bisher ungekannte Weise – der Bildschirm selber wird zur Droge. „Muss seiner Selbstbefriedigung jetzt so nah wie möglich kommen“, sagt Elizabeth. Das gilt für Georg nicht minder.

Ist aber auch dann die Kulmination der Lust nicht immer noch fraglich? Wenn am Ende individueller Selbststimulation, da sie koital zusammenfinden, doch aufs Neue das Fleisch dominiert und die eskalierende Phantasie wieder schwächt?

Steht bei der körperlichen Vereinigung nicht stets das Fleischliche im Vordergrund und wird zum Würgeengel der Phantasie?

Ist nicht für jeden, auch nachdem er durch seinen Voyeurismus in den Zustand rauschhafter Erregung geriet, die fleischliche Vereinigung jedes Mal aufs Neue so ernüchternd, wie wenn er aus siedender Hitze unter die kalte Dusche käme?

Vielleicht unter anderem ist das die Erklärung für die nahezu 50-prozentige Scheidungsrate in der westlichen Welt. Vielleicht sind, aus den beschriebenen Gründen, die sexuell befreiten mündigen Partner von der körperlichen Liebe enttäuscht und geben sich gegenseitig daran die Schuld. Beweist es doch, dass die Partner sich von der Ehe etwas anderes erwartet haben; und das bedeutet wohl nicht zuletzt, etwas anderes auch vom Sex.

Liest man nicht jeden Tag in der Zeitung von Frauen, die von ihren Männern sexuell nicht befriedigt werden? Ist es unter Männern nicht ein Gemeinplatz, dass der Koitus nicht hält, was die Onanie verspricht? „Wir wissen nun“, so der Analytiker Sándor Ferenczi, „dass die Onanisten – durch ihre Phantasien verzogen – nur zu bald mit dem Sexualobjekt unzufrieden sind.“ Er vergisst allerdings hinzuzufügen, dass das für annähernd hundert Prozent der Menschheit gilt.

„Jede Realität erscheint, gemessen an der Vollkommenheit der Phantasievorstellungen“, so der Analyst Viktor Tausk, „nur als unzulängliches und schlechtes Surrogat für die Onanie. Das Subjekt ist, wenn es zum Objekt kommt, intolerant gegen die unvermeidlichen Mängel der Körperlichkeit, weil es seine Libido mit der Phantasie verwöhnt hat.“

Dabei beruht das Debakel eventuell nur auf einem simplen Missverständnis. Die meisten Männer und Frauen geben die Schuld für ihr sexuelles Ungenügen (für ihr jeweils höchstpersönliches I can't get no satisfaction) leichthin ihrem Partner: dass sein Appeal, seine Zuwendung und Liebe – oder die eigene Liebe zu ihm – eben doch nicht stark genug sei, um auch sexuelle Erfüllung zu bringen. Die wenigsten ahnen den eigentlichen Grund ihrer Frustration: dass es nicht sowohl die Schuld ihres Partners, als vielmehr die Natur der Sinnlichkeit selbst ist, dass er sexuell nicht genügt: dass es die Natur der Fleischesliebe an sich ist, die mit der narzisstischen Autoerotik nicht zu konkurrieren vermag!

Sind dann die Zweitehen meist stabiler als die ersten, so deshalb, weil die Partner sich die Hörner abgestoßen, sich ihres metaphysischen Anspruchs entäußert und mit der Unvollkommenheit des – intersexuellen – Glücks arrangiert oder abgefunden haben.

Es scheint, wofern eine solche Betrachtung überhaupt legitim und sinnvoll wäre, ein ,Fehler' in der organischen Natur des Sexus selbst. Die biologische Beschaffenheit der Welt – und das heißt immer, die biologisch-evolutionäre Natur (nach Kleist, die ,gebrechliche Einrichtung der Welt') – hat den Sex so eingerichtet, und hat ihn auch gar nicht anders einrichten können, als er eben eingerichtet ist! Den Partner dafür zur Rechenschaft zu ziehen, hieße den Sack schlagen, wo der Esel gemeint ist.

So wäre womöglich dadurch, dass die Partner dem stereotypen Missverständnis nicht länger aufsäßen, auch die exorbitante Scheidungsrate zu senken.

Würde die noch unerreichte Geliebte dem Sexualtrieb des Mannes dann en fait so genügen, wie er in sehnsuchtsvollem Verlangen nach ihr sich selbst befriedigt, – so würde wohl kaum ein Mann, im Paroxysmus seines Glücks, seine Frau jemals wieder verlassen. Und würde der Mann dem libidinösen Trieb der Frau so genügen, wie die Frau in sehnsuchtsvollen Träumen von ihm sich selbst befriedigt, würde wohl kaum eine Frau, im Paroxysmus ihres Glücks, ihren Mann jemals wieder verlassen.

Aber so ideal funktioniert die körperliche Liebe nicht. So einwandfrei hat die Evolution nicht reüssieren können. Da sie, dem französischen Nobelpreisträger François Jacob nach, nur ein Flickenteppich – bricolage – ist, bleibt auch im Sex alles immer nur provisorisch und fragmentarisch.

Würde die oder der noch unerreichte Geliebte dem Sexualtrieb wirklich so genügen, wie die Person sich in Gedanken an sie oder ihn sich selbst befriedigt, so wäre die Welt eine ganz andere. Ist es überhaupt auszudenken, in welch unvergleichliche Raserei da der Sexualneid und Kampf um die Weibchen entbrennen würde?

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